Hello neues Jahr

Bevor ich begann meinen Text zu schreiben, hab ich erstmal mein Handy in die Büroküche gelegt und meine Mailprogramme ausgeschaltet. Ich wollte ganz für diesen Text da sein, ohne ein „Oh, ich sollte jetzt die Whatsapp lesen“ oder „Ich sollte mal schauen, was XXX da per Mail schreibt.“ Ich gewöhne mir nämlich gerade das „Ich sollte“ ab und ich kann dabei echt jede Unterstützung gebrauchen.

Instagram scheint das auch zu wissen, denn momentan ist meine Timeline dort wirklich wild! Kaum war der Zeiger im letzten Jahr von 23:59 auf 00:00h gehüpft, kamen die Challenges auf mich gestürmt und haben meine Schwachstellen voll erwischt: Ich sollte mehr aufräumen, ich sollte gesünder essen, ich sollte mehr auf meine Schönheitsroutine achten, quatsch, ich sollte eine Schönheitsroutine haben! Ich sollte mich mehr bewegen, ich sollte…am besten einfach ein Vielfaches optimierter sein als mein jetziges Ich. Zeitschriften sind voll von Themen rund um neue Vorsätze und wie man sie WIRKLICH hält. Jedes Magazin kennt den Geheimtipp und hat einen Menschen mit viel Expertise parat, der das auch noch einmal gut unterlegen kann. Wir können alles schaffen, wenn wir es nur genug wollen und auf unser Ziel hinausarbeiten. Nichts dieser Challenges und Tipps hat vor Augen, was für ein Paket die Menschen mit sich tragen, die diese Dinge konsumieren.

Der Januar, der sich jährlich als eine leere Seite voller Möglichkeiten für uns auszubreiten scheint, macht uns empfänglich für Neuanfänge und Vorsätze – und uns so zum gefundenen Fressen für alle „Neues Jahr, Neues Ich Themen“. Genau so präsentiert sich ein Großteil meiner Instagram Bubble: Es kommen optimierte Versionen ihrer selbst aus allen Ecken zum Vorschein. Sie filmen sich beim Versuch des regelmäßigen Sports, sie filmen sich bei Mealpreps, beim Ausmisten, sie filmen sich dabei, wie sie versuchen, eine bessere Version ihrer selbst zu sein. Eine bessere Version als im letzten Jahr, das gerade 17 Tage zurückliegt. Aber was, wenn unser altes Ich eigentlich ganz okay ist? Was, wenn nicht das Neue Jahr einen neuen Menschen aus uns macht, sondern das, was wir in einem ganzen Jahr, in einem ganzen Leben über erleben? Was, wenn sich manche Dinge nicht optimieren lassen, weil sie zu uns gehören, und das völlig in Ordnung ist?

Es war der 31.12. letzten Jahres, als ich auf Instagram bei einer meiner Lieblingsautorinnen, Elizabeth Day, über den Satz gestolpert bin: „New Year, same you is a worthy aspiration“ – Neues Jahr, dasselbe „Du“ ist ein wertvolles Bestreben. Das war wie Balsam für meine fragende Seele.

Vor allem meine letzten beiden Jahre waren sehr stark von fremdgesteuerten „Ich sollte“-Mantras geprägt. Ich habe insgesamt sieben Kinderwunschbehandlungen mit Hormontherapien hinter mir, um mir und uns den Wunsch zu erfüllen, Eltern zu werden. Die Behandlungen sind aus einer Ansicht entstanden, dass ich für den Traum, Mutter zu werden, doch bereit sein sollte, alles Mögliche zu tun. Also habe ich mich auf diesen in Deutschland letzten medizinisch möglichen Weg der ICSI-Behandlungen begeben, um unser Ziel zu erreichen. Hormonspritzen, die dafür sorgten, dass mein Körper mehrere Eizellen bildet, was innerhalb kurzer Zeit zu einer großen schmerzhaften Umfangansammlung meines Bauches führte und zu extremen Stimmungsschwankungen. Ich reduzierte meinen geliebten Sport, weil er schmerzhaft für mich wurde. Aber die medizinische Behandlung allein reichte nicht. Von gescheitertem Versuch zu Versuch war ich auf der Suche nach Optimierung für mich und meinen Körper und konfrontiert mit Tipps und Ratschlägen: Ich sollte entspannter sein, ich sollte mehr Nahrungsergänzungsmittel nehmen, ich sollte auf Kaffee verzichten, ich sollte zur Akupunktur, ich sollte Fruchtbarkeitsmassagen ausprobieren, ich sollte aufhören, weil es sich nicht mehr lohnt, ich sollte vitaminreiche Säfte trinken und chinesische Kräutertees, ich sollte regelmäßig Heilpilze zu mir nehmen, ich sollte nicht mit so vielen Leuten über meine Behandlungen reden, weil es nur Druck macht, wenn es nicht klappt, ich sollte doch jetzt endlich mal Abschied nehmen, ich sollte weiterführende Untersuchungen durchführen, ich sollte meine Mutterschaft manifestieren, ich sollte über Adoption nachdenken. Ich befolgte Ratschläge einer Heilpraktikerin, die mir empfahl, meine Gebärmutter innerlich zu wärmen und eine Athmosphäre zu schaffen, in der sich ein Embryo wohlfühlt: Warmes Frühstück und der Verzicht auf kalte Lebensmittel, die diesen „Palast des Kindes“ abkühlen. Ganz oben auf der Liste: Gurken. Kalte Gurken. Ich sollte auf kalte Gurken verzichten.

Was ich in zwei krisenreichen Jahren Kinderwunschbehandlung gelernt habe: Es gibt sehr sehr viel Optimierungspotenzial auf dem Weg, mein Ziel zu erreichen und ich kann mich auf diesem Weg regelrecht verlieren. Aber am Ende kann ich nichts wirklich tun, damit es wirklich klappt. Ich habe keine Kontrolle darüber, wie das ganze ausgeht. Ich kann nur versuchen, mir meinen Weg so leicht wie möglich zu machen und so freundlich wie möglich zu mir selbst zu sein. Und ich kann nur akzeptieren, dass ich, ich bin, mit all meinen Unperfektheiten und so den Weg zurück zu mir finden. Ich habe in den letzten beiden Jahren, viele Weggefährtinnen kennengelernt, weil ich über diese „Unperfektheit“ gesprochen habe. Und ich habe festgestellt, dass es doch die Unperfektheiten sind, die uns verbinden. Wir werden nicht liebenswerter, weil wir optimierte Versionen unserer selbst sind. Je mehr wir es schaffen, uns diesen Unperfektheiten gegenüber zu öffnen und uns zerbrechlicher zu zeigen, mit den Paketen, die wir mit uns herum tragen, desto mehr können wir uns wirklich miteinander vernetzen.

Wir tragen alle Pakete mit uns herum, aktuell sogar gemeinschaftlich in Zeiten einer nicht enden wollenden Pandemie. Ich fühle mich stärker und stabiler als Anfang letzten Jahres, auch wenn die Zeiten immer noch unstetig sind. Aber es ist gerade Mal ein paar Monate her, dass wir zusätzlich zu den Päckchen, die wir mit uns herumtragen, einen halbjährigen Lockdown hinter uns hatten. Auch gerade jetzt existiert wieder eine Stimmung voller Unsicherheiten. Es ist okay, wenn man sich da nicht so fühlt, als könnte man Berge versetzen. Es ist noch nichts vorbei, wie sollte unser emotionales Auf und Ab da nicht noch extra Achterbahn fahren? Die Zeit ruft einfach danach, ganz besonders nett zu uns selbst zu sein.

Statt mich fremdgesteuert zu optimieren und zu tun, was ich „tun sollte“, weil die Gesellschaft meint, dass es gut ist, nutze ich die Zeit nicht nur jetzt im Januar, um mich auf das zu fokussieren, was ich selbst wirklich von mir möchte und ich erlaube mir einfach, es zu tun. Kein: Ich sollte mehr auf Instagram präsent sein, ich sollte heute noch auf die E-mail antworten, ich sollte nett zu dieser einen Person sein, die einfach permanent unfreundlich ist, ich sollte mehr Reels drehen, ich sollte mich wieder auf’s Nähen konzentrieren, damit ich mehr über mein Fokusthema berichten kann, ich sollte wirklich nicht so viel Privates im Internet teilen. Sondern ein: Ich möchte mich mehr öffnen, damit ich mich freier entfalten kann. Ich möchte mehr nähen, weil es mir gut tut, ich möchte mich um meinen Körper kümmern, der auch letztes Jahr sehr viel geleistet hat. Ich erlaube mir, wertschätzender mit meiner Schreib- und Arbeitszeit umzugehen. Ich erlaube mir, meine Welt, die weiterhin gerade sehr klein zu sein scheint, zu öffnen und mehr Dinge hereinzulassen, die sich gut anfühlen. Und ich werde bei all dem verdammt nochmal wieder meine geliebten Gurkensticks essen.

Was erlaubt ihr euch dieses Jahr mehr? Passt auf euch auf und habt einen wundervollen Start in ein Jahr, mit Menschen und Dingen, auf die ihr wirklich Lust habt, statt dem was ihr „tun solltet“.

Ich sollte den Text vielleicht besser mit ein paar Zwischenübersichten gliedern, bevor ich ihn veröffentliche, schießt es mir gerade durch den Kopf. Aber ich beschließe, auf „Veröffentlichen“ zu klicken. Weil er so wie er ist, auch in die Welt raus kann.

Selmin

Selmin Ermis-Krohs

Als Slow Fashion & Living Enthusiastin bin ich der kreative Kopf hinter dem Blog Tweed & Greet und Co-Founderin des Kölner DIY Fashion Labels Schnittduett. Ich bin Buchautorin von zwei Nähbüchern, Fotografin, Designerin, Content Creator, Multilinguistin, stolze Hundemama und ich glaube sehr stark daran, dass wundervolle Dinge geschehen können, wenn man sich erlaubt, ein langsameres und kreativeres Leben zu führen. Mit Ideen rund um mein Steckenpferd DIY Fashion zeige ich hier neben nachhaltiger und selbstgenähter Mode, Anregungen, die euch anfeuern sollen, mehr Kreativität in den Alltag zu bringen und auch mal etwas Langsamkeit zu zelebrieren.

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21 Kommentare

  1. Antworten

    Jana

    17. Januar 2022

    Liebe Selmin,
    ein wundervoller Beitrag ohne Zwischenüberschriften, diese hätten tatsächlich meinen Lesefluss gestört ;-*
    Und wahre Worte die du sprichst. Ich kann diese Vorsätze nicht mehr hören, hab ich schon seit Jahren aus meinen Leben verband und es tut gut. Denn wenn man etwas neues ausprobieren möchte, dann kann man es jeder Zeit und sehen, ob es zu einem passt und wenn ich ist da völlig in Ordnung. Denn macht uns nicht jeden Kleinigkeit an uns selbst aus! Sind wir nicht so wie wir sind wunderbar!
    Ich wünsche dir eine wundervolle Woche
    Ganz liebe Grüße
    Jana

    • Antworten

      Selmin Ermis-Krohs

      17. Januar 2022

      Danke liebe Jana, und yes! So wie wir sind, sind wir ganz wunderbar! Ich wünsche dir auch eine schöne Woche! Liebe Grüße, Selmin

  2. Antworten

    Julia

    17. Januar 2022

    Liebe Selmin,

    glücklicherweise war ich noch nie Fan von Neujahrsvorsätzen. Wenn ich etwas verändern will, dann fange ich gleich an. Und dieser Optimierungswahn geht ja schon so weit, dass man Achtsamkeitsübungen machen soll. Wie fremdbestimmt macht uns das letztlich? Und wie sehr verlieren wir das Gefühl für uns selbst, unsere Intuition?
    Ich habe seit gut einem Jahr nichts gepostet – weder auf Instagram noch in meinem Blog. Und diese Pause hat mir extrem gut getan. Es mag ja durchaus sein, dass der einen oder anderen gewisse Ratschläge helfen, aber wenn man alle bei Dir hintereinander liest, dann ist das ein großes Wirrwarr.
    Ich wünsche Dir, dass Du wieder zu Deinem eigenen Bauchgefühl findest. Du hast viel probiert und ich kann nachvollziehen, dass man sich da erstmal auf vieles einlässt. Deine Konsequenz daraus scheint für mich die hingegen die Gesündeste!

    Liebe Grüße,
    Julia

    • Antworten

      Selmin Ermis-Krohs

      17. Januar 2022

      Danke liebe Julia, für dich auch alles Liebe!💙

  3. Antworten

    Elke

    17. Januar 2022

    Liebe Selmin,
    ein wunderbarer Text.
    Liebe Grüße
    Elke

    • Antworten

      Selmin Ermis-Krohs

      17. Januar 2022

      Danke, liebe Elke

  4. Antworten

    Karin Dotzer

    18. Januar 2022

    Liebe Selmin,
    danke für deine offenen, emphatischen, bewegenden und motivierenden Worte und Gedanken. Es ist schön, diese zu lesen und mit Dir zu teilen und so in ein neues Jahr zu starten, deine Karin

    • Antworten

      Selmin Ermis-Krohs

      18. Januar 2022

      Danke liebe Karin!💙💙

  5. Antworten

    Marina

    18. Januar 2022

    Liebe Selmin,
    Du sprichst mir aus dem Herzen und ich kann alles so gut nachvollziehen. Wir sollten das und wir sollten dies nicht, aber sollten wir das nicht auch alles wollen dürfen?
    Dieser Januar fühlt sich nicht wirklich wie ein Neuanfang an, sondern wie ein drohendes Mahnmal dafür, was alles nicht geschafft wurde. Daher Danke für deine Worte!
    Liebe Grüße
    Marina

    • Antworten

      Selmin Ermis-Krohs

      18. Januar 2022

      Danke liebe Marina, fühl dich gedrückt!💙💙

  6. Antworten

    Ani Lorak

    18. Januar 2022

    Liebe Selmin. Lieben Dank für den Text, Deine Offenheit. Ja, manchmal muss man akzeptieren, dass das Optimieren nicht alles ist. Deinen Text mag ich, er ist sicher aus Dir herausgerissen und ja, so ist es. Optimieren versuche ich auch, aber mittlerweile überlegt.. Vorsätze fasse ich so nicht mehr zum Jahresanfang. Entweder ändere ich sofort oder ich akzeptiere. Ich möchte Dich einfach drücken und sagen, danke und ich verstehe Dich. Ich wünsche Energie

    • Antworten

      Selmin Ermis-Krohs

      18. Januar 2022

      Danke liebe Ani! Fühl dich auch gedrückt!

  7. Antworten

    Nicki Scharein

    18. Januar 2022

    Liebe Selmin,

    durch insta bin ich auf Deinen Blog aufmerksam geworden. Du liebe Güte, bei so vielen „ich sollte“, die Du gehört oder Dir auferlegt hast, hätte ich schon aufgegeben. Gute Vorsätze für das neue Jahr sind beliebt, aber wer hält sie ein?? Du machst es richtig: tu das, was Dir gut tut. Ich versuche es schon seit längerer Zeit, mal klappt es, mal nicht. Das ist aber auch nicht schlimm. Immer schön langsam, es wird schon….
    Liebe Grüße
    Nicki

  8. Antworten

    Nicki Scharein

    18. Januar 2022

    Liebe Selmin,

    Danke für Deine Offenheit und Ehrlichkeit.. Du liebe Güte, bei so vielen „ich sollte“, die Du gehört oder Dir auferlegt hast, hätte ich schon aufgegeben. Gute Vorsätze für das neue Jahr sind beliebt, aber wer hält sie ein?? Du machst es richtig: tu das, was Dir gut tut. Ich versuche es schon seit längerer Zeit, mal klappt es, mal nicht. Das ist aber auch nicht schlimm. Immer schön langsam, es wird schon….
    Liebe Grüße
    Nicki

    • Antworten

      Selmin Ermis-Krohs

      18. Januar 2022

      Liebe Nicki, danke für die lieben Worte!💙💙

  9. Antworten

    Nicki Scharein

    18. Januar 2022

    .. jetzt erscheint mein Text 2 Mal… unglaublich…. sorry….

  10. Antworten

    Sina

    18. Januar 2022

    💙 ein Herz, einfach so, für dich Selmin, weil mein Hirn und Kraft dank Quarantäne mit 2 Kindern gerade nicht für mehr reicht. Ich sollte nichts oder mehr schreiben, no! 😙

    • Antworten

      Selmin Ermis-Krohs

      18. Januar 2022

      Danke liebe Sina! Und halte durch!😘💙

  11. Antworten

    Franzi

    19. Januar 2022

    Liebe Selmin,
    Danke für deinen Text, für mich genau zur richtigen Zeit.
    Eine Freundin von mir hat mal gesagt: jeder Ratschlag kann auch ein Schlag sein.
    Darin steckt viel wahres wie ich finde.
    Ich mache gerade eine Chemotherapie und bin diesbezüglich viel mit „ich sollte“ und „du solltest“ konfrontiert. Ich versuche immer mehr, mich von Personen und Themen abzugrenzen, die mir nicht gut tun und das auch deutlich zu kommunizieren. Nicht immer leicht, gerade wenn es einem nicht gut geht.
    Ich wünsche dir alles gute!

    • Antworten

      Selmin Ermis-Krohs

      29. Januar 2022

      Liebe Franzi, vielen Dank für deinen Kommentar. Ich wünsche dir viel Kraft für deine Chemotherapie und auch für die „guten“ Ratschläge. Ich drücke dich und wünsche dir auch alles Gute! Liebste Grüße, Selmin

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