Als ich Anfang der Woche einen Blick in unsere lokale online Zeitung warf, hatte ich eine erste beklemmende Vorstellung davon, welche Auswirkungen die Corona-Pandemie auf die Rabattgestaltung der Modeindustrie und das Konsumverhalten der Käufer haben könnte. Menschen mit vollgepackten Tüten vor dem Kaufhaus einer großen Modekette, die 70% Rabatt auf sein Sortiment gewährte. Seit Montag dürfen in NRW Bekleidungsgeschäfte mit Sicherheitsauflagen und Terminvergaben wieder öffnen. Viele Menschen nutzten diese wieder neu gewonnene Freiheit und die Modeläden waren froh, wieder öffnen zu können. Und jeder griff nach seiner Chance. Laut dem deutschen Modeverband GermanFashion hatte die Modebranche im Jahr 2020 einen Umsatzrückgang von fast 20% zu verzeichnen. Viele der Unternehmen sitzen seit Monaten auf ihrer Ware. Alles muss raus. Sie müssen Platz machen für die neue Saison. Das Rad muss sich weiterdrehen. Aber wo bleibt der Platz für Wertschätzung und Nachhaltigkeit in der Mode?
Auswirkungen der Pandemie auf Rabatt- und Konsumverhalten
Die vielen Tüten auf dem Foto machten mich sauer. Der erste Tag der Öffnungen und Menschen horteten Tüten mit lieblos vollgestopften Kleidungsstücken, die wahrscheinlich in China oder Bangladesh, von Arbeiter*innen unter schwersten Bedingungen genäht wurden. Solche Szenen ließen sich bereits vor der Pandemie beobachten. Und auch wenn wir noch nicht genau wissen, wie sehr sich die Welt in den letzten 12 Monaten verändert hat, ich fand es erschreckend, dass sich hier wieder ähnliche Szenarien wie vor Corona abspielten. Dabei hatte die Unternehmensberatung McKinsey im Juni 2020 noch eine optimistisch stimmende Analyse mit Modekonsument*innen aus Deutschland veröffentlicht. Die große Mehrheit der Käufer*innen gab dabei an, dass sie Modeartikel länger nutzen und weniger schnell wegwerfen wollten. Sie erwarteten von Marken, weniger Umweltbelastung und Fürsorge für ihre Arbeitnehmer und Lieferanten in der COVID-19-Krise. Außerdem planten sie insgesamt, langlebigere Modeartikel zu kaufen und diese häufiger zu reparieren.
Eine Branche mit so einem riesigen Einfluss auf Wirtschaft, Umwelt und Menschen. Da sollte es doch oberste Priorität sein, Kleidung wertzuschätzen und nachhaltig zu handeln.
Ich schaute auf das Foto in der Zeitung und fragte mich, wie sich weitere Rabattschlachten auf gedankenlosen Modekonsum und damit verbundener Wertminderung und die Wegwerfmentalität auswirken würden. Noch mehr Preis- und Wertverfall in einer Industrie, die gleichzeitig so eine negative Auswirkung auf Umwelt und Menschenrechte hat. Auf der anderen Seite hat Mode so einen großen Effekt auf unser Selbstwertgefühl. Mode macht was mit uns. Mode empowert. Wenn wir gut gekleidet sind, fühlen wir uns stark. Wir zelebrieren Modeikonen. Lassen uns von Mode beflügeln. Eine Branche mit so einem riesigen Einfluss auf Wirtschaft, Umwelt und Menschen. Da sollte es doch oberste Priorität sein, Kleidung wertzuschätzen und nachhaltig zu handeln.
Nachhaltigkeit in der Mode bedeutet, Verantwortung zu übernehmen
Nachhaltig und wertschätzend zu handeln bedeutet dabei nicht unbedingt nur Fair Fashion zu kaufen, oder nur selbst zu nähen oder nur noch Second Hand zu kaufen. Klar, all dies sind gute Einstiegsmöglichkeiten, um sich kritisch mit Mode und den Wertschöpfungsketten innerhalb der Industrie zu beschäftigen. Wer selbst näht, kennt die Arbeit die in ein Kleidungsstück gesteckt wird. Und wer sich dazu entscheidet, Fair Fashion Mode zu kaufen, hat ich sich vorher mit dem Label und den Produktionsvorgängen beschäftigt und ist bereit, etwas mehr Geld auszugeben und Unternehmen zu unterstützen, die in ihren Produktionsketten verantwortlich handeln.
Aber gedankenlos jede Saison einen Stapel neuer Fair Fashionteile zu kaufen ist auch nicht viel nachhaltiger als achtlos im Fast Fashion Shop zuzuschlagen, wenn ich am Ende nicht sorgsam und langfristig mit den Kleidungsstücken umgehe. Sie so lange wie möglich zu erhalten, d.h. sie ordentlich zu pflegen und zu reparieren, wenn sie beschädigt sind oder sie zur Reparatur bringen, wenn man es nicht selbst reparieren kann sind dabei enorm wichtige Maßnahmen. Auch wenn es ein günstiges Kleidungsstück ist. Denn – auch das günstige Teil wurde mit Handarbeit von Arbeiter*innen genäht, die sehr hart für noch viel weniger Geld arbeiten. Ich kenne die Menschen, die meine gekaufte Kleidung genäht haben nicht, aber ich werde ihnen Respekt zollen. In jedem Teil in meinem Kleiderschrank hängt ein Stück von ihnen. Sie haben es verdient, so wertschätzend behandelt zu werden, wie meine von mir selbst genähten Stücke oder Teile. Nachhaltigkeit in der Mode bedeutet, sich als Konsument nicht nur vor dem Kauf Gedanken über die Kleidung zu machen, sondern auch danach volle Verantwortung für die Lebensdauer und den Lebenszyklus seines Kleidungsstücks zu übernehmen.
Mein persönlicher Aha Moment – Das Hosenschnallendrama
Wie schnell man aber auch mit den besten Absichten in die Falle tappen kann, stellte ich vor ein paar Wochen bei mir selbst fest. Bei einer neu gekauften Hose war nach zweimaligem Tragen die Hosenschnalle gebrochen. Mein erster Impuls war, die Hose zu reklamieren und zurücksenden für einen Ersatz. Die Hose war keine 14 Tage alt, die Rückgabe stand mir als Verbraucherin zu. Doch je mehr ich darüber nachdachte, desto mehr begriff ich die Verantwortung, die jetzt für diese Hose hatte. Ich befürchtete, dass das Zurückschicken zur Entsorgung der Hose führen würde, statt zu einer Reparatur. Ich hätte vielleicht eine weitere neue Hose bekommen. Aber die bis auf die kaputte Schnalle vollkommen perfekte Hose wäre kaum getragen in einem Entsorgungskreislauf gelandet. Ich entschied mich dazu, die Schnallen selbst zu ersetzen. Trotzdem schrieb ich die Firma an, reklamierte den Mangel und schrieb ihnen, dass ich sie selbst reparieren wolle, damit sie nicht entsorgt wird. Gleichzeitig fragte ich aber, ob sie sie denn reparieren würden, wenn ich sie zurückschickte. Die Antwort kam schnell, freundlich und ziemlich kurz. Sie würden die Hose natürlich bei solch einer Art Schaden reparieren, wenn sie ungetragen wäre. Ungetragen, dass bedeutete also, dass sie entweder bereits gebrochen bei mir angekommen oder kurz vor dem Anziehen kaputt gegangen sein müsste. Ein sehr unwahrscheinliches Szenario.
Ich bestellte zwei neue ähnliche Hosenschnallen bei Etsy und machte mich ans Werk. Das Auftrennen ging ziemlich zügig, ich tauschte die Schnallen aus und legte die Schlaufen unter die Nähmaschine. Ich war schnell fertig und wollte noch einmal mit einem Zickzackstich die Gürtelschlaufen gut fixieren. Dabei hielt ich eine der Gürtelschnallen zu nah an die Nadel. Die Nadel rammte sich mit voller Wucht in den Kunststoff und zerbrach die Schnalle! Puh! Damit hatte ich nicht gerechnet. Mensch ey, ich wollte diese Hose doch einfach nur fröhlich anziehen! Online waren die gleichen Schnallen inzwischen ausverkauft. Ich bestellte also wieder ganz neue. Dieses Mal ging ich beim Nähen etwas vorsichtiger vor und klebte die Schlaufen vorher mit Textilkleber fest, damit sie nicht verrutschten. Ich nähte extrem langsam und teilweise manuell nur mit dem Handrad.
Am Ende hatte ich die Hose fertig repariert. Das beflügelte mich so sehr, dass ich den Frust über den Schnallenfriedhof, den die Hose hinterlassen hatte, schnell vergaß und mir direkt zwei weitere Kleidungsstücke von meinem Reparaturstapel nahm.
Nachhaltigkeit in der Mode bedeutet, sich als Konsument nicht nur vor dem Kauf Gedanken über die Kleidung zu machen, sondern auch danach volle Verantwortung für die Lebensdauer und den Lebenszyklus seines Kleidungsstücks zu übernehmen.
Ich konnte an diesem Tag keine der Näher*innen aktiv unterstützen oder unmittelbar etwas daran ändern, dass die Modeindustrie vielleicht doch nichts dazu gelernt hat. Aber ich hatte Verantwortung für meine Kleidung übernommen und dafür gesorgt, dass drei meiner Kleidungsstücke wieder tragbar waren. Das geschnallt zu haben, war ein ziemlich tröstliches Gefühl.
Anne
Liebe Selmin, so wahr so wahr! Ich sass gerade kopfnickend hier und konnte nur jeden Deiner Sätze bejahen. Ich mache das bei meinen Kleidungsstücken auch. Bei meinen Kindern fällt mir jedoch immer auf, dass sie so schnell rauswachsen und reparieren nicht lohnt, weil sie quasi nicht mehr reinpassen wenn ich fertig bin. Leider wird selbstrepariertes auf Secondhand Plattformen nur selten gekauft. Auch da sollte ein Umdenken stattfinden. Das alles gibt einem Kleidungsstück doch erst seine Geschichte! Liebe Grüsse
Bianca
Genau so! Bei Sachen für Erwachsene funktioniert es meist ganz gut. Bei Kindersachen bekomme ich immer ein schlechtes Gewissen, da sie wirklich immer nur kurz getragen werden und manchmal ihr Leben fast ungenutzt als Wechselklamotten im Kindergarten fristen. Meistens nähe ich mit Langarm und für den Sommer werden die Kleider- und Longsleeves-Ärmel gekürzt oder eben die Hosenbeine. Alles andere kaufe ich Secondhand. Hier gibt’s auch keine Kindersachen für besondere Anlässe.
Ulrike
Yeah, Selmin. Danke für deine weisen Worte. Wir müssen alle etwas mehr Verantwortung für unser Handeln übernehmen. Auch wenn es manchmal (ziemlich) unbequem ist. 🙂
Nachhaltige Slow-Fashion-Grüße nach Köln!
Ulrike
Inga
Liebe Selmin,
ich habe zwar schon auf Instagram kommentiert, aber ich finde deinen Beitrag so wichtig, dass ich hier auch nochmal meinen Senf lassen möchte. Was du über die Wertschätzung von Kleidung schreibst finde ich absolut richtig. Leider ist es in unserer Gesellschaft nicht mehr normal, Sachen zu reparieren. Dabei gibt es so viele tolle Möglichkeiten alten oder kaputten Sachen neues Leben einzuhauchen. Toll, dass du das für dich erkannt hast und noch toller, dass du es mit uns teilst.
Viele Grüße
Inga
undiversell
Liebe Selmin, ein sehr schöner Beitrag und ich finde, dass es diesen Fast-Food-Klamottenverbrauch gar nicht geben dürfte. Näherinnen müssten fair bezahlt werden, was den Wert automatisch steigern würde. Ich überlege mir sehr genau, welche Kleidungsstücke ich brauche, nähe sehr viel allein und kaufe bewusst Kleidung. Allerdings bin ich auch in einem Alter, wo ich zeitlose Klassiker bevorzuge und nicht mehr jede Modetorheit mitmachen muss. 🙂 Danke für deinen inspirierenden Beitrag. LG Undine
fetzich
Hallo Selmin,
danke für diesen tollen Artikel und dass du darauf aufmerksam machst, dass man Verantwortung für seine Kleidung übernehmen sollte. Wenn ich anfange zu reparieren, merke ich oft, dass es gar nicht so schwer ist und meist sogar schneller geht als gedacht. Und es ist immer ein kleines Erfolgserlebnis 🙂
Liebe Grüße
Jenny
Kia
Liebe Selmin,
da schreibst du wahre Worte! Leider ist Kleidung bei uns auch einfach viel zu billig, sodass sich viele einfach zu viel Kleidung kaufen, die man gar nicht anziehen kann.
Deine Situation kann ich gut nachvollziehen: Es hat mich auch circa 3 Stunden gekostet, den Reißverschluss an der Winterjacke meines Mannes zu erneuern, anstatt in vielleicht 30 Minuten eine neue zu kaufen.
Eigentlich schon irre, wie wir durch Werbung und Co verleitet werden, immer Neues und Anderes zu konsumieren…
Liebe Grüße
Kia
Juliane
Liebe Selmin,
da muss ich dir recht geben. Jeden deiner Sätze konnte ich bejahen. Schlimm ist auch, wenn ich sehe was T-Shirts kosten. Für 4€ bekomme ich nicht mal 1m Stoff. Da fängt es an mich zu gruseln. Alle reden sie von Nachhaltigkeit und Co2 Ausstoss aber bei Kleidung dann doch lieber billig kaufen. Bei eurem Podcast ist mir die Folge noch sehr gut in Erinnerung geblieben, wo ihr mal grob überschlagen habt, was ein T-Shirt kosten müsste, wenn es ein fair hergestelltes T-Shirt ist. Das hat mir noch mehr die Augen geöffnet.
Liebe Grüße
Juliane