Vor zwei Wochen haben wir mit dem Schnittduett unsere neuen Schnittmuster in die Welt gelassen und direkt im Anschluss hab‘ ich noch kleinere Projekte abgeschlossen. Jetzt ist gerade Zeit für eine kleine Pause, um den Kopf wieder zu entspannen, bevor’s nächste Woche wieder an den Schreibtisch geht. Dabei bin ich über diesen Text in meinen Morning Pages über kreativen Mumm gestoßen, der schon lange dort steht. Ich fand ihn zum Abschluss einer kreativen Schaffensphase so passend, dass er nun heute einen Platz hier auf meinem Blog findet.

Das erste Mal habe ich im Seamwork Magazin in einem Artikel von Sarai Mitnick über „Creative Grit“ gelesen. Übersetzt bedeutet es ungefähr, kreativer Mumm oder kreativer Biss. Seit ich das erste Mal darüber las, entdecke ich das Thema immer wieder bei mir – und anderen. Kreativer Mumm beinhaltet die Fähigkeit, seine Kreativität herauszulassen, möglichen Fehlern ins Auge zu sehen und es trotzdem zu machen. Eine Eigenschaft, die viele kreative Menschen, die ihre Kreativität auch ausleben, in sich tragen.

Was ist kreativer Mumm?

Genau wie der Autorin des Textes, begegnet auch mir oft der Satz: „Du machst echt so coole Sachen, ich würd auch so gern mal nähen können und kreativ sein,“ gefolgt von einer sich etwas klein machenden Aussage, wie „aber, ich hab zwei linke Hände.“ Ich antworte dann meist ganz aufmunternd, dass sie einfach nur starten müssten und es bestimmt gut geht, so wie ich damals einfach losgelegt habe. Meist bleibt es bei diesem kleinen Smalltalk und ich höre nicht mehr von ihnen. Und dann gibt es die Leute, die tatsächlich einfach starten. Wie zum Beispiel meine beste Freundin, die vor einigen Jahren einfach anfing zu nähen und jetzt furchtlos experimentiert. Was sie von den Leuten unterscheidet, die gar nicht erst starten oder nach ein paar ersten Versuchen aufgeben? Sie hatte den Mumm, einfach loszulegen.

Einfach loszulegen ist bei kreativen Dingen meist die größte Hürde. Diejenigen, die sich beim Nähen oder anderen kreativen Dingen durch ihre ersten Fehler kämpfen, zeigen eine Offenheit, mit ihren Fehlern umzugehen, daraus zu lernen und Erfahrung zu schöpfen. Sie zeigen kreativen Biss. Scheitern gehört beim Kreativ sein dazu. Kreativität ist ein Abenteuer. Egal ob jemand mit einer Tasse Tee in der Hand an der Nähmaschine sitzt, in Hausschuhen am Küchentisch Geschichten schreibt, malt, töpfert oder sich im Tanz ausdrückt. Wer kreativ ist, begibt sich auf eine spannende Reise, egal wo die Person gerade ist. Kreativität ist etwas, das im Kopf beginnt und vom Körper umgesetzt werden möchte. Menschen mit kreativem Mumm lassen diese Kreativität einfach heraus, ohne sich von dem Gedanken aufhalten zu lassen, dass etwas schief gehen könnte.

Sie akzeptieren, dass wenn etwas schiefgeht, sie einfach weitermachen können und durch dieses Scheitern dazulernen. In einem Online-Workshop, den ich Anfang des Jahres besucht hab, hab ich gelernt, dass es beim Kreativsein nicht darum geht, immer etwas Gutes zu kreieren. Es geht darum, einfach zu kreieren. Wer ein Buch schreibt, um einfach ein Buch zu schreiben, wird mit einer Lockerheit an dieses Buchprojekt herantreten, anders als jemand, der unbedingt ein GUTES Buch schreiben möchte. Wer schreibt, um zu schreiben, dem fließen die Wörter aus dem Kopf in die Finger.

Strategien, um kreativen Mumm zu entwickeln und beizubehalten

Auch ich bin oft vorne mit dabei, wenn es darum geht, das Kreativsein mit der Bedingung zu verknüpfen, am Ende ein gutes Resultat zu erzielen. Dabei merke ich, wie gering meine Toleranzgrenze ist zu scheitern. Besonders dann, wenn die kreativen Ergebnisse am Ende von Kund*innen oder der Öffentlichkeit bewertet werden. Im Laufe der Zeit hab ich ein paar Strategien für mich entwickelt, mit denen ich diese Zeiten der Unsicherheit überwinde und einfach weitermachen kann damit, einfach nur kreativ zu sein.

Einfach anfangen – aber auch, einfach mal Pausen machen

Es gibt immer einen Punkt, an dem ich mich bei dem Gedanken erwische: „Das ist nicht gut genug“ oder „Ich muss es neu machen“. Oder ich verzögere den Start, weil ich bereits meine, die komplizierten Stellen zu kennen, an denen ich scheitern werde und keine Lust auf darauf habe. Wenn ich dann einfach anfange, komme ich oft problemlos durch diese „komplexen“ Stellen hindurch. Und meine „nicht gut genug“-Gedanken überkomme ich damit, meine Arbeit ein paar Tage ruhen zu lassen und sie mir dann noch einmal anzuschauen. Egal, ob es Texte, Fotos oder Designthemen sind, mit ein paar Tagen Abstand, kann ich mit „fremdem“ Blick noch einmal ein Auge darauf werfen und meine innere Kritikerin ausschalten.

Mir erlauben, „etwas Schlechtes“ zu produzieren

Gerade, wenn es mir darum geht, Texte zu schreiben, sei es ein Blogpost, eine Anleitung oder eine Kundenarbeit. Es ist mir wichtig, einfach loszuschreiben. Die Finger müssen einfach tippen, was ich denke, egal wie ich mich gerade ausdrücke. So fange ich immer an mit einem groben Text. Ohne den Anspruch, dass dieser Text gut wird. Ich schreibe einfach, was aus meinen Fingern kommt. Am liebsten mit der Hand. Brené Brown nennt diese Texte in ihrem Buch „Rising Strong“, Shitty first drafts. Und ja sie sind shitty. Aber sie helfen dabei, alles was gesagt werden will, einmal aus dem Kopf herauszutransportieren. Will ich die Texte veröffentlichen, kümmere ich mich die Verfeinerung später. Am liebsten zwei bis drei Tage später. Dann kann ich das, was ich sagen möchte, in einem besseren Context sehen. Wie mit der Strategie oben, lese ich sie quasi mit den Augen einer Fremden. Meist stelle ich dann fest, dass ein Großteil schon ziemlich gut ist und kümmere mich um Fine-tuning. Dabei habe ich mir abgewöhnt, außer Schreibfehlern, zu viel zu korrigieren, sondern wirklich die Gedanken einfach so stehen zu lassen, wie sie sind, schließlich gab es einen Grund, dass sie so aus mir herauskamen.

Mir erlauben, Anfängerin zu sein

Mir geht es, wie vielen anderen kreativen Menschen. Mich interessiert nicht nur DAS EINE kreative Thema. Seitdem ich angefangen habe zu nähen und eigene Ideen umzusetzen, hab‘ ich einige neue kreative Felder ausprobiert. Ich habe Zeichenkurse belegt, kreative Schreibkurse und auch einen kleinen Töpferkurs. Wenn ich neue Dinge ausprobiere, von denen ich keine Ahnung hab, kann ich mich super frei machen von dem Gedanken, gut sein zu müssen. Ich kann einfach loslegen, herumprobieren und mich über eine schöne Zeit und die Ergebnisse freuen.

Wie über die „getöpferten“ Stücke, die bei unserem kreativen Online Stammtisch mit meinen Schwestern entstehen. Was ursprünglich als einmaliges Geburtstagsgeschenk geplant war, ist nun zu einem wöchentlichen Event geworden, bei dem wir jeden Donnerstag mit selbsttrocknendem Ton herumwerkeln, herumblödeln und einfach eine geile Zeit zusammen haben, obwohl wir so verstreut wohnen. Wir lassen unsere inneren Kinder spielen, und es tut supergut! Und: Ich lerne als Anfängerin immer wieder, meine Kreativität mehr vom Herzen heraus zu steuern, statt mich nur von meinem Kopf lenken zu lassen.

Dieses⁠ Spielen nehme ich mit in meine Arbeit, wenn die Perfektionistin in mir wieder lauter wird und mir damit droht, dass ich am besten alles nochmal von vorn mache! ⁠Kreativer Mumm kostet mich Überwindung, aber überwinde ich diese erste Phase, werde ich belohnt mit dem beruhigenden Prozess des kreativen Schaffens: Dem kreativen Flow, der viel wichtiger ist, als das Ergebnis selbst. Weil er frei ist von Bewertung.

Kreieren am Morgen – statt zu konsumieren

Wenn ich mich schon früh am Morgen mit „wichtigen“ Nachrichten und Infos von außen konfrontiere, kann das schnell dazu führen, dass ich meine kreative Arbeit als irrelevant empfinde. Weil vielleicht gerade andere etwas Ähnliches und vermeintlich besseres gezeigt haben oder die Welt plötzlich von Nachrichten geprägt wird, die viel viel wichtiger als meine kreativen Werke erscheinen. Ich versuche daher meist, morgens nicht als erstes durch Instagram zu scrollen und mich nicht den kreativen Ergüssen anderer hinzugeben. Auch das Lesen von Welt-Nachrichten verschiebe ich auf einen späteren Zeitpunkt. Stattdessen trinke ich in Ruhe meinen Kaffee, schreibe meine Morning Pages und erlaube mir so bereits meine ersten kreativen Schritte und räume meiner Kreativität wieder Relevanz ein. Denn: Unsere Kreativität ist relevant – für uns und für die Menschen die wir damit inspirieren möchten.

Kreative Kick-Starter einführen

Manchmal ist auch einfach der Wurm drin. Da helfen auch meine Strategien, weiterzumachen nichts. Der kreative Mumm macht sich rar und mein Perfektionismus rät mir, doch diese ganze Sache mit der Kreativität einfach sein zu lassen. Dann helfen mir Gespräche mit anderen Kreativen. Zu erfahren wie sie mit kreativen Rückschlägen oder Unsicherheiten umgehen, helfen mir dabei, mich wieder einfach auf’s Kreativsein zu fokussieren. Aber auch Hörbücher oder Podcasts über Kreativität lockern meine kreativen Verspannungen immer wieder super. Vor ein paar Wochen hat mir die „Steal like an Artist“-Trilogy von Austin Kleon beim Gassigehen einfach so einen kreativen Kick verpasst, dass ich sie danach noch einmal gehört hab.

Kreativer Mut bedeutet, einfach loszulegen. Nur wenn ich loslege, kann ich kreativ sein. Kreativität ist wie ein Muskel, der trainiert und gefördert werden möchte, denn sonst verkümmert er. Ich bin selbst dafür verantwortlich diesen Muskel zu trainieren und gut mit ihm umzugehen. Ihn mit Spielereien auch immer wieder zu lockern und zu dehnen. Und auch mal, um mit ihm zu experimentieren, ohne ihn durch Perfektionismus zu blockieren oder für irrelevant zu halten. Und dabei einfach nicht zu vergessen, dass es gar nicht darum geht, etwas gut zu machen. Es geht darum, einfach zu machen.

Selmin Ermis-Krohs

Als Slow Fashion & Living Enthusiastin bin ich der kreative Kopf hinter dem Blog Tweed & Greet und Co-Founderin des Kölner DIY Fashion Labels Schnittduett. Ich bin Buchautorin von zwei Nähbüchern, Fotografin, Designerin, Content Creator, Multilinguistin, stolze Hundemama und ich glaube sehr stark daran, dass wundervolle Dinge geschehen können, wenn man sich erlaubt, ein langsameres und kreativeres Leben zu führen. Mit Ideen rund um mein Steckenpferd DIY Fashion zeige ich hier neben nachhaltiger und selbstgenähter Mode, Anregungen, die euch anfeuern sollen, mehr Kreativität in den Alltag zu bringen und auch mal etwas Langsamkeit zu zelebrieren.

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3 Kommentare

  1. Antworten

    Claudia

    16. Juni 2021

    Liebe Selimin, was für schöne Worte und beschreiben sie doch so gut, wie so die Höhen und Tiefen im kreativen Prozess sind und dass wir eben nicht immer abliefern können. Danke.
    LG deine Claudia
    P.S.: Wäre doch auch ein tolles Thema für ein Podcast 🤗

    • Antworten

      Selmin Ermis-Krohs

      16. Juni 2021

      Liebe Claudia, vielen Dank! Genau das! Ja das stimmt, das wäre auch ein schönes Thema für eine Podcastepisode:-) Ganz liebe Grüße,Selmin

  2. Antworten

    Mai Quynh

    9. Oktober 2021

    Hallo Selmin,
    ich freue mich, dass du diese Gedanken aus deinen Morning Pages mit uns teilst!
    Das mit dem Kreativen Mumm habe ich noch nicht gekannt, ist aber ein toller Begriff, den ich mir direkt mal notiert hab 🙂
    Gerade beim Schreiben denk ich mir, dass ich mit einem „schlechten“ Text oft mehr machen kann als mit keinem Text (aka leeres Blatt, weil ich mich nicht getraut habe, anzufangen) – da merke ich, was schon gut funktioniert hat und wo ich noch mal drüber muss.
    Beste Grüße, Mai Quynh

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